Kurzer Führer durch den Dom

von Dompfarrer Monsignore Harald Kiebler

Allgemeines

Nachdem die Länder übergreifende Diözese Konstanz aufgelöst worden war, wurde 1828 die Diözese Rottenburg gegründet. Rottenburg wurde zum Sitz des Bischofs und die dortige Markt- und Pfarrkirche zum Dom St. Martin erhoben. Mit ausschlaggebend dafür war, dass Stuttgart mit dem dort residierenden protestantischen König als Bischofssitz nicht in Frage kam. Dagegen aber lag das katholische Rottenburg ganz in der Nähe der Landeshauptstadt, und die neu zu gründende katholisch-theologische Fakultät konnte an die Landesuniversität Tübingen angeschlossen werden.

Das Priesterseminar wurde im ehemaligen Karmeliterkloster am Neckar untergebracht (dort befindet sich heute auch das Diözesanmuseum), und das ehemalige Jesuitenkolleg beherbergt seither das Bischöfliche Ordinariat.

Zwar hat Rottenburg mit nahezu 4700 Gläubigen eine der größten Domgemeinden Deutschlands, trotzdem hat sie einen bescheidenen Dom, auch wenn die Diözese Rottenburg-Stuttgart weit größere und prächtigere Münster und Basiliken vorzuweisen hat.

So stieß St. Martin gleich zu Beginn seiner Geschichte als Dom auf wenig Gegenliebe, wenn zum Beispiel der erste hier residierende Bischof Johann Baptist von Keller in einer anonymen Flugschrift schreibt:

„Stößt sie nicht gegen die ersten Regeln der Symmetrie? Verdüstert sich nicht schon das Gemüth beim Eintritte? Ja, sie steht der gemeinsten Dorfkirche wenigst darin nach, dass ihr Vorderhaus – Chor – völlig schief steht in der Richtung zum Langhause! Es bedarf keines Beweises, nur eines flüchtigen Blickes und geraden Urteils.“

Von Anfang an gab es deshalb Pläne, einen neuen Dom in Rottenburg zu bauen: einmal ganz italienisch anmutend oder im neobyzantinischen Stil, bis hin zum neoromanischen Dom. Realisiert werden konnte allerdings keiner dieser Pläne.

 

Zur Geschichte

Wer St. Martin betritt, wird mit einem asymmetrischen Raum konfrontiert. Der Grund dafür liegt im Turm als ältestem Teil der Kirche. Sein Unterbau wurde um das Jahr 1280 errichtet. Um diesen Turm herum wurde in den folgenden Jahrhunderten die Kirche gebaut: zuerst eine Liebfrauenkapelle, danach die Marktkirche St. Martin. Aufgrund der räumlichen Begrenzung durch den Marktplatz und die Vergrößerung des Kirchenschiffes konnte man nicht in einer Achse bauen und versetzte deshalb das Mittelschiff einfach in Richtung Süden.

1644 wurde St. Martin beim großen Stadtbrand sehr schwer beschädigt. Ein Relikt aus dieser Zeit sind die überdimensionierten Säulen des Mittelschiffes. Die ausgebrannten gotischen Säulen wurden ummauert, um das Gewicht der Gewölbe tragen zu können. Die Kirche wurde wieder aufgebaut und prächtig ausgestattet. Bereits 1655 zählte man hier 7 Altäre. Reste dieser reichen Ausstattung sind die 12 Apostel im Mittelschiff von Carl Amrein, das Triumphkreuz am Chorbogen und der Auferstehungschristus beim Taufstein. 1735 wurde die Kirche beim zweiten Stadtbrand wieder stark in Mitleidenschaft gezogen. 1787 wurde von der Österreichischen Regierung sogar der Abbruch der Martinskirche in Erwägung gezogen.

Nach ihrer Erhebung zum Dom wechselte St. Martin im Inneren häufiger sein Erscheinungsbild: Dem Zeitgeschmack entsprechend wurde die barocke Innenausstattung durch eine neogotische ersetzt. 1904 war wieder ein Abriss und Neubau des Domes geplant. 1928 erstrahlte er nach der Entfernung der neugotischen Ausstattung im Neubarock. 1955/56 wurde ein Großteil der Ausstattung ersatzlos aus der Kirche entfernt. 1977/78 wurde St. Martin ein weiteres Mal im Stil des Neubarock umgestaltet. So wurde die barocke Grisaillemalerei rekonstruiert. Aus dieser Zeit stammen auch der heutige Altar, Ambo, Tabernakel, Taufstein und die Kathedra (Bischofsstuhl) von Wendelin Matt.

Vor dem 175jährigen Jubiläum der Diözese nun entschlossen sich der Bischof, das Domkapitel und die Domgemeinde zu einer weiteren grundlegenden Renovation, nachdem vor allem bauliche Mängel dringend behoben werden mussten. Es sollte sich jedoch nicht nur das äußere Erscheinungsbild ändern. Neben seiner Funktion als Dom sollte die Renovation von St. Martin auch für die Domgemeinde liturgisch und spirituell neue Zeichen setzen. Nach einem Architektenwettbewerb erhielt das Aachener Büro Hahn-Helten den Auftrag zu dieser Renovierung.

 

Ein Rundgang durch St. Martin

Hell, freundlich und einladend zeigt sich der Dom heute jedem, der zum Gottesdienst oder persönlichen Gebet kommt. Der Dom von Rottenburg, schlicht und würdevoll einerseits, andererseits aber auch ein Kirchenraum, in dem ich mich als einzelner Besucher geborgen und zuhause fühlen kann. Seine liturgische und ästhetische Neuausrichtung setzen deutliche Akzente.

Die liturgischen Orte

Alle liturgischen Orte, 1978 von Wendelin Matt geschaffen, sind durch schwarzen Granit gekennzeichnet und heben sich vom übrigen Boden aus heimischem Gauinger Travertin deutlich ab.

Der Altar, das Zeichen für Christus, wurde in das Kirchenschiff vorgerückt, näher zur feiernden Gemeinde hin. Er bildet sichtbar die Verbindung zwischen Gemeinde und Domkapitel und Bischof. Auch architektonisch bildet er nach der Renovation den Mittelpunkt der Kirche und der Gemeinde.

Der Ambo (Lesepult) als Tisch des Wortes bildet mit dem Altar, dem Tisch des Brotes, eine Einheit.

Die Kathedra (Bischofsstuhl) im Scheitelpunkt der Chorhalle bildet sichtbar den Abschluss der Gemeinde und wird vom Gestühl des Domkapitels und des Domklerus flankiert.

Die Figur des Hl. Martinus aus dem 15. Jh. stammt aus der benachbarten Theoderichskapelle und überragt die Kathedra des Bischofs. Als Diözesan- und Kirchenpatron stellen sich Bischof, Diözese und Domgemeinde unter seinen Schutz. Sein Leben, Glauben und Wirken sind ihnen Vorbild und Verpflichtung.

Die Chorfenster, nach Entwürfen von Wilhelm Geyer aus Ulm gefertigt, stammen aus dem Jahr 1955. Das Christusfenster in der Mitte zeigt Szenen aus dem Leben Christi. Es wird links vom Martinusfenster und rechts vom Marienfenster flankiert. Zwischen den Hauptwerken der Domorgel leuchtet das Westfenster mit dem Thema des Psalmes 150, der Verherrlichung Gottes.

Die Fenster im Langhaus sind bereits 1974 nach Entwürfen von Prof. Hägele gefertigt worden, doch können sie erst seit der vergangenen Renovation ihre Strahlkraft entfalten. Es lohnt sich, das Formen- und Farbenspiel zu verschiedenen Tageszeiten in aller Ruhe zu betrachten, wenn das kräftige Grau abends allmählich in ein anmutiges Blau übergeht.

Die Sakramentskapelle im Turm ist das Ergebnis einer mutigen Entscheidung der Bauherren, die es wagten, eine Wand dieses ältesten Baukörpers der Kirche öffnen zu lassen. Bisher ragte der Turm als Fremdkörper in die Kirche hinein. Heute lenkt er schon beim Eintritt in die Kirche alle Blicke auf sich und lädt schon von weitem dazu ein, nach vorn zu kommen und vor dem Tabernakel mit dem Allerheiligsten im Gebet zu verweilen. Der höchste und älteste Teil der Kirche beherbergt den im Brot gegenwärtigen Christus weithin sichtbar durch den gotischen Turmhelm, der nachts beleuchtet ist und wie ein großes Sakramentshaus in der Stadt steht.

Der Marienaltar im nördlichen Seitenschiff zeugt von der Marienweihe der Diözese 1943 durch Bischof Joannes Baptista Sproll. Dieser mutige und von den Nationalsozialisten aus seiner Diözese verbannte Bekennerbischof wird auch heute noch von den Gläubigen seiner Diözese hoch geschätzt und verehrt.

Das Passionsbild der Beweinung Christi im Nordschiff unter der Empore ist ein Werk der frühen schwäbischen Renaissance vom Anfang des 16. Jhs. Vermutlich stammt es aus einer Ulmer Werkstätte.

Einen exponierten Platz hat die Martinusreliquie erhalten. Vorne am Turm in der Nähe des Altares positioniert, wurde sie von Doris Rayman-Nowak in Silber gefasst. Sie ist ein Geschenk des Erzbischofs von Tours, das dieser zur Wiedereröffnung des Domes 2003 überreichte.

Die silbernen Ölgefaße beim Taufstein im südlichen Seitenschiff unter der Empore wurden von derselben Künstlerin geschaffen. In der Bischofskirche in der Karwoche geweiht, sollen die heiligen Öle dort auch für den Besucher sichtbar sein. Die Ornamentierung und die Edelsteine als Abschluss der Gefäße weisen darauf hin, was sie beinhalten: Das Hellblau des Wassers für den Heiligen Chrisam (für die Taufe und für Weihen), das Grün der Hoffnung für das Krankenöl und das Violett der Umkehr und Buße für das Öl der Katechumenen (Taufbewerber).

Ebenso von D. Raymann-Nowak stammen die Apostelkreuze an den Säulen. Auf silbernem Untergrund verweisen die den alemannischen Goldblattkreuzen nachempfundenen Kreuze auf die reiche christliche Vergangenheit der Diözese.

Ebenfalls an den Säulen wurden die in Bronze gegossenen Wappen der Bischöfe von Rottenburg-Stuttgart in den Boden eingelassen.

Wie sie hat der Aachener Bildhauer Thomas Torkler 2011 auch den Kreuzweg gestaltet. Auf runden Alabasterscheiben sind die einzelnen sehr reduziert gehaltenen Stationen eingefräst und rubinrot nachgezogen.

Deckensegel überspannen das gesamte Mittelschiff; Schalen, die das relativ flache Gewölbe nach unten ziehen und verlängern. Ein moderner Raum im historischen wurde so geschaffen. Dies verdeutlichen auch die neuen Portale, die sich vom historischen Baukörper loslösen und durch Lichtbänder an den Seiten einladen, in diesen neugestalteten Raum zu treten.

Die große Domorgel zeugt zusammen mit der Chororgel von der hervorragenden Kirchenmusik am Martinsdom. Sie wurde 1978/79 von der Firma Sandtner gebaut (wie auch die 2007 vollendete Chororgel) und umfasst nach einer gründlichen Überholung und Neufassung des Gehäuses 61 klingende Register auf vier Manualen und Pedal (Chororgel: 14 Register). Sie begleitet die nahezu 500 aktiven Sängerinnen und Sänger der verschiedenen Chöre der Rottenburger Domsingschule bei der feierlichen Domliturgie und ist bei vielen Konzerten das Jahr über zu hören.